82 Großvater - Dasein

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82 Großvater

Großvater – Warum ? !

Die kleine Traude war ein sehr aufgewecktes Kind, das wie ein Wirbelwind die Welt der Erwachsenen durcheinander zu bringen vermochte.

Ihre Fragen rührten an Dinge, die man schon abgeschlossen, abhakt, bewältigt zu haben glaubte. Immerhin gehörte man doch zu denjenigen, die schon ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hatten oder die sich selbst an die Brust klopfend auf die sogenannte Erfahrung verweisen konnten.

Heute war wieder einer ihrer besonderen Tage. Trübes Wetter hielt Traude im Hause aber nicht davon zurück, dafür umso mehr die ebenfalls im Zimmer Gefangenen mit ihrem ganz speziellen Sonnenschein in Form eindringlicher Befragung zu beglücken.

Großvater nannte sie nämlich daher „Mein Sonnenschein“ – auch wenn er an solchen Tagen oft zu Recht nach Stunden des Erzählens an sein Enkelkind appellierte, „Bring mir doch bitte meine Sonnenbrille“, „Du bist mir einfach heute wieder etwas zu hell, mein Kind.“

Traude wusste, was gemeint war, verstand ihr lebendes Lexikon und zog sich dann auch meistens rücksichtsvoll in ihr Zimmer zurück.

Doch heute ließ sie nicht locker. „Sag, warum gibt es gute und böse Menschen?“.
Sie hatte nämlich zuvor ein Märchen gelesen, in dem zwar die Bösen letztendlich unterlegen waren, von den „Guten“ ihrer gerechten Strafe zugeführt wurden, und Prinz und Prinzessin bis ans Ende ihrer Tage zu leben hatten, aber was, so fragte sie jetzt, sei eigentlich der Grund, dass die einen „gut“ und die anderen „böse“ geworden wären.

Großvater runzelte die Stirn. Gute Frage. „Weißt Du“, so schloss er nach einer Weile an „Du hast das ganz richtig erfasst, die Menschen sind „gut“ oder „böse“   g e w o r d e n. Das heißt, sie waren nicht immer so.“

Es ist ungefähr so wie bei den Pflanzen.
Die Samen, aus denen die Menschen auf dieser Erde wachsen, sind „gute“ Samen. Aber manchmal fällt das Korn auf steinigen Boden oder verirrt sich in einer Felsspalte.

Wenn es dann regnet, ertrinken manche Samenkörner; manche wieder werden weggeschwemmt, haben mehr oder weniger Glück dabei. Einmal landen sie dadurch auf fruchtbarem Boden, gelangen in ein Land, wo Sonne scheint und gleichzeitig das Wasser im Boden Erfrischung bedeutet.

Andere wiederum verlieren den Mut, den Glauben an sich selbst   o b w o h l   sie auf fruchtbaren Acker gefallen sind.
Oft schießen sie dann wie verrückt aus der Erde, dem Himmel zu – viel zu schnell –, weil sie Angst davor haben, nicht genug Sonne abzukommen.

„Und je nachdem wachsen dann Sonnenblumen oder Disteln daraus“ sprudelte es aus Traude, fragend und schlussfolgernd zugleich, hervor.

„Ja, so ähnlich muss es wohl sein“, sagte der alte Mann nachdenklich und nahm sein Enkelkind zärtlich in den Arm.

Arme Disteln – meinte Traude – so stachelig, aber an den schönen Blüten sieht man doch, dass eigentlich viel „Gutes“ in ihnen steckt.

Großvater war stolz auf die Weisheit seiner kleinen Enkeltochter – wie lange hatte   e r   doch für diese Erkenntnis gebraucht – oder hatte er es auch früher schon gewusst und dann nur vergessen?


P.K.

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